AMICA: „Ich kann nicht mehr atmen“ - Frauenrechte im Libanon zwischen Wirtschaftskollaps, Gewalt und Gesundheitskrise

Frauen nehmen in dem Begegnungszentrum in der Bekaa Ebene an einem Fotografiekurs teil (c) Christina Brun

Vor der Corona-Krise konnte Salma* ihrem gewalttätigen Vater zumindest ein paar Stunden pro Tag entkommen, wenn sie zur Arbeit ging, „um auf andere Gedanken zu kommen und ein bisschen zu atmen.“ Seit der Ausgangssperre, sagt sie, „kann ich nicht mehr atmen.“ Viele Frauen haben derzeit keinen Ausweg aus dem Teufelskreis der häuslichen Gewalt. Im Schatten der Pandemie steigt deren Zahl, weltweit. Auch im Libanon. Seit Anfang März ist das Not-Telefon unserer libanesischen Partnerorganisation im Dauereinsatz. AMICA arbeitet mit einer Frauenorganisation in der Bekaa-Ebene, nahe der syrischen Grenze zusammen. In einem psychosozialen Beratungszentrum werden Syrerinnen und Libanesinnen unterstützt, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. 


Corona im Libanon: Eine Krise neben vielen anderen


Die Gesundheitskrise trifft die ganze Welt. Doch in einem Land wie dem Libanon, das ohnehin von Krisen gebeutelt ist, trifft sie die Menschen besonders hart. Das Land erlebt seit Jahren das Zusammenspiel von Wirtschafts- Finanz- und Staatskrise. Die seit letzten Herbst anhaltenden Proteste gegen Korruption und Staatsversagen wurden durch die Corona-Epidemie jäh unterbrochen. Obwohl die libanesische Regierung auf COVID19 vergleichsweise rasch mit strikten Ausgangssperren reagierte und die offiziellen Fallzahlen derzeit noch vergleichsweise niedrig sind, hätte die weitere Ausbreitung des Virus verheerende Folgen: Wirtschaftlich ist das Land schon jetzt bankrott, das Gesundheitssystem marode.


Begründete Ängste in den informellen Geflüchteten-Camps


In den informellen Siedlungen der Bekaa-Ebene, wo hunderttausende Menschen aus Syrien vor dem Krieg Schutz suchen, ist die Situation besonders schlimm. Aktuell gibt es zu möglichen Infektionen keine verlässliche Auskunft. Auf engstem Raum leben die Menschen hier, Abstand und überlebenswichtige Hygienemaßnahmen lassen sich in den Camps ohne sanitäre Anlagen nicht einmal im Ansatz umsetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich um informelle Siedlungen handelt, für die weder flächendeckende humanitäre Hilfe noch koordinierte Präventionsmaßnahmen zur Verfügung stehen. NGOs, die Hygieneartikel und medizinische Ausrüstung verteilen wollen, brauchen vorab eine Genehmigung von der örtlichen Polizei, damit sie sich in den Camps überhaupt bewegen können, berichten unsere Partnerinnen. 


Erprobt im Umgang mit Krisen: Die Arbeit unserer Partnerinnen zwischen Corona-Epidemie und häuslicher Gewalt 


Auch unsere Partnerinnen sind von den Ausgangssperren betroffen. Doch sie tun alles dafür, die nun dringender denn je benötigte Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen aufrecht zu halten und auch jene Frauen zu erreichen, die in den informellen Siedlungen der Bekaa-Ebene leben. Sie bieten psychologische und rechtliche Beratungsgespräche über Telefon, Video und die sozialen Medien an. „Im März haben wir einen deutlichen Anstieg der Kontaktaufnahme von Frauen über die sozialen Medien bemerkt. Es scheint der einfachere Zugang für Frauen während der Ausgangssperre zu sein als von zu Hause aus telefonisch bei uns um Hilfe zu bitten. Wir arbeiten verstärkt daran, die Kommunikationskanäle und Beratungsangebote über die sozialen Netzwerke auszubauen.“ Unsere Partnerorganisation berichtet, dass viele Frauen verunsichert sind und depressiver wirken als zuvor. Und sie verzeichnen einen deutlichen Anstieg der Hilfe-Gesuche von Frauen, die zum ersten Mal mit der Organisation Kontakt aufnehmen. Über sog. „Focal Points“ in den informellen Siedlungen halten unsere Partnerinnen zudem regelmäßig Kontakt mit einem Netzwerk von NGOs und internationalen Organisationen. Auf diesem Weg erfahren sie von Frauen, die Unterstützung benötigen und kontaktieren die Betroffenen in den ansonsten isolierten Camps. Landesweit sind sie zudem mit einer Kampagne zur Gesundheitsaufklärung aktiv und verteilen Flyer in Apotheken, Arztpraxen und in den Camps. Dabei geht es auch um Aufklärung über die Folgen der Corona-Krise für Frauen. Es müsse darum gehen, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen und die verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft zu schützen, gerade jetzt, so unsere Partnerinnen. 


Die Pandemie hat im Libanon eine Zeit lang die anderen Krisen überdeckt, aber nicht abgelöst. Seit einigen Tagen werden die Proteste gegen die Regierung in mehreren Städten des Landes wieder aufgenommen, trotz Corona. Neben Kritik an Korruption und Bankenkrise werden dabei, wie schon bei den Protesten im Oktober 2019, Stimmen zum desolaten Gesundheitswesen und zur Frauenrechtssituationen zu hören sein.  

*Name geändert

Artikel von Hannah Riede, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei AMICA e.V

AMICA -  für Frauen und Mädchen in Krisengebieten

AMICA e.V. ist eine Frauenrechtsorganisation, die sich für von Gewalt betroffene Frauen einsetzt. AMICA e.V. arbeitet mit Projektpartnerinnen vor Ort zusammen und unterstützt diese im Aufbau eigenständiger nachhaltiger Strukturen. 

AMICA e.V. ist Mitglied im Dachverband Entwicklungspolitk Baden-Württemberg e.V.